Was versteht genau man unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) beziehungsweise einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)?

Kinder, die überaktiv, unaufmerksam und leicht ablenkbar sind, nicht lange bei einer Sache bleiben können oder Probleme damit haben, ihre Aktivitäten zu organisieren und ihre Impulse zu kontrollieren, gelten als „ADHS-Kinder“.

Laut Expertenmeinung handelt es sich dabei um eine genetisch bedingte Störung, die sich häufig nachteilig auf die Bildungs- und Berufslaufbahn auswirkt und ein lebenslanges Handicap darstellt.  Wenn allein Probleme mit der Aufmerksamkeit bestehen, ohne dass gleichzeitig Hyperaktivität vorliegt, bezeichnet man dies als ADS. Es gibt allerdings keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass ADHS genetisch bedingt ist und die American Pediatric Association kam zu dem Schluss, dass es keine überzeugenden wissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass ADHS biologische Ursachen hat.

 

Eine alternative Sichtweise auf Aufmerksamkeitsstörungen

Durch sorgfältige Beobachtung unserer Kleinsten ist es möglich, die Aufmerksamkeitsstörung und ihre Behebung von einer anderen Seite zu betrachten. Es ist normal, dass Kinder im Alter von etwa einem Jahr ein ähnliches Verhalten wie ADHS-Kinder zeigen, wenn sie sich frei bewegen dürfen und nicht lange Zeit am Stück in Babystühlen oder Autokindersitzen sitzen müssen.

Sie sind in Bewegung, klammern sich fest und klettern und haben Probleme damit, still zu sitzen. Es fällt ihnen schwer, Anweisungen zu folgen und ihre Aktivitäten zu organisieren. Sie sind impulsiv und leicht abzulenken. Im Gegensatz zu älteren Kindern mit einer ADHS-Diagnose können normale Kinder ihre Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität mit zunehmendem Alter ganz von allein überwinden. Wie kommt es, dass Kinder, deren Verhalten sich normal entwickelt, sich von Kindern mit ADHS unterscheiden und welches „geheime“, den Experten unbekanntes Wissen ermöglicht es ihnen, ihre Aufmerksamkeitsprobleme zu überwinden?

 

Das Gehirn des Babys ist noch nicht entwickelt

Das Gehirn von Babys ist noch sehr unreif. Beim Neugeborenen funktioniert nur der Hirnstamm  ordnungsgemäß, während die anderen Teile nur in geringem Maße genutzt werden. Bevor ein Mensch sein gesamtes Gehirn nutzen kann, müssen sich Axone zwischen den Gehirnnervenzellen entwickeln und die Nervenfasern eine isolierende Myelinscheide bilden, so dass ein Netz entsteht. Diese Gehirnreifung findet während der gesamten Kindheit statt. Der wichtigste Zeitraum, in dem der Grund für die spätere Entwicklung gelegt wird, ist jedoch das allererste Lebensjahr. Schätzungen zufolge bilden sich im Gehirn eines Neugeborenen in jeder Lebensminute mehr als 4 Millionen Axone.

Dieser Prozess geschieht nicht von selbst. Damit die Verzweigung und Myelinisierung stattfinden kann, muss das Gehirn von den Sinnen stimuliert werden, insbesondere von Gleichgewichtssinn, Tastsinn und Bewegungssinn. Das Baby erhält diese Stimulation durch die Berührung und das Wiegen der Eltern sowie durch ständige alterstypische rhythmische Eigenbewegungen. Diese entwickeln sich in einer bestimmten Reihenfolge nach einem angeborenen Programm mit individuellen Variationen. Umdrehen, Robben, Schaukeln und Krabbeln auf allen Vieren sind wichtige Abschnitte dieser Entwicklung. Die Stimulation, die das Gehirn des Babys im ersten Lebensjahr durch solche rhythmischen Bewegungen erfährt, ist für die spätere Entwicklung und Reifung des Gehirns von fundamentaler Bedeutung.

Bei Kindern, die auf diese Weise nicht genügend stimuliert wurden, ist die Gehirnreifung verzögert oder beeinträchtigt. Eine so verzögerte Entwicklung kann sich in Gestalt der Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität zeigen.

 

Das dreigliedrige Gehirn

Der amerikanische Wissenschaftler Paul McLean hat die Gehirnentwicklung von Reptilien, Säugetieren und Menschen studiert. Nach seinen Erkenntnissen besteht das menschliche Gehirn aus drei Schichten, die den Hirnstamm umgeben bzw. überlagern. McLean bezeichnet den Hirnstamm auch als das „Fischgehirn“, weil er grob dem Gehirn eines Fischs entspricht. Die drei Schichten des dreigliedrigen Gehirns umgeben den Hirnstamm sozusagen wie „Zwiebelschalen“.

Oberhalb des Hirnstamms liegt das „Reptiliengehirn“, das den im Zuge der Evolution entwickelten neuen Gehirnteilen entspricht. Beim Menschen besteht das reptilienhafte Gehirn unter anderem aus den Basalganglien, zu deren Aufgaben die Steuerung der Haltungsreflexe gehört, das heißt unsere Fähigkeit zu stehen und das Gleichgewicht zu halten. Das Reptiliengehirn muss auch die so genannten „primitiven“ Reflexe hemmen – angeborene, stereotype, vom Hirnstamm gesteuerte Bewegungsmuster. Die primitiven Reflexe bilden die Bewegungen des Fötus und des Neugeborenen und müssen in Haltungsreflexe umgewandelt werden, damit das Kind aufstehen, laufen und das Gleichgewicht halten kann. Die Basalganglien sorgen auch dafür, dass der Aktivitätsgrad des Kindes an die Situation angepasst und es weder hyperaktiv noch hypoaktiv ist.

Auf dem Reptiliengehirn sitzt das limbische Gehirn, das unter anderem unsere Emotionen, unser Gedächtnis, das Lernen und Spielen steuert.

Das limbische Gehirn wird umschlossen vom Neocortex, dem Sitz unserer rationalen, kognitiven Funktionen. Signale aus den Sinnesorganen müssen beim Neocortex ankommen und dort verarbeitet werden, damit wir wahrnehmen, was um uns herum vor sich geht, und bewusst handeln können.  Der vorderste Teil des Neocortex, der präfrontale Kortex, ist für Urteilsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Entschlusskraft und Impulskontrolle von entscheidender Bedeutung.

 

Die Bedeutung der rhythmischen Bewegungen für die Vernetzung des Gehirns

Bei der Geburt sind alle Bestandteile des dreigliedrigen Gehirns ausgebildet, arbeiten aber noch nicht ordnungsgemäß. Damit sie als Einheit funktionieren, müssen sie entwickelt und miteinander vernetzt werden. Das geschieht durch die rhythmischen Bewegungen des Säuglings, die das Wachstum und die Verzweigung der Nervenzellen sowie die Myelinisierung der Nervenfasern stimulieren.

Dazu muss das Baby über einen ausreichenden Muskeltonus verfügen. Damit dieser sich ausbildet, muss das Kind berührt, umarmt und geschaukelt werden und es muss sich frei bewegen dürfen. Diese Art der Stimulation sendet Signale aus den Sinnesorganen von Tastsinn, Gleichgewichtssinn und Bewegungssinn  zu denjenigen Zentren des Stammhirns, deren Aufgabe die Regulation des Muskeltonus ist. Wird ein Baby in dieser Hinsicht nicht ausreichend stimuliert, kann es Schwierigkeiten haben, den Kopf und die Brust zu heben und sich zu bewegen, was wiederum die Stimulation weiter herabsetzt, sodass ein Teufelskreis entsteht.

Kann sich das Baby nicht frei bewegen, wird der Neocortex über das retikuläre Aktivierungssystem des Stammhirns (RAS) zu wenig stimuliert. Die Aufgabe dieses Systems ist es, den Neocortex anzuregen, in Gang zu setzen. Geschieht dies nur ungenügend, wird das Kind schwerfällig und unaufmerksam gegenüber sensorischen Signalen. Außerdem entwickeln sich dann die Nervenzellen und Nervennetze des Neocortex nicht richtig.

 

Die Bedeutung des Kleinhirns

Auch das Kleinhirn ist wichtig für die Vernetzung des Gehirns und die Fähigkeit, aufmerksam zu sein.

Die Aufgabe des Kleinhirns besteht darin, für rhythmische, koordinierte und fließende Bewegungen zu sorgen. Vom Kleinhirn aus führen wichtige Nervenverbindungen zum präfrontalen Kortex und zu den Sprachzentren im Frontallappen der linken Hemisphäre.

Bei der Geburt ist das Kleinhirn noch nicht entwickelt, erst ab dem sechsten Monat wächst es beträchtlich. Die rhythmischen Bewegungen des Babys entwickeln die Nervennetze und Nervenzellen des Kleinhirns und seine Verbindungen zu den Frontallappen. Aus diesem Grund sind diese rhythmischen Bewegungen äußerst wichtig für die Vernetzung des Stirnhirns und für Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit und Sprache.

 

Warum es Babys schwerfällt, still zu sitzen und aufmerksam zu sein

Wie bereits erwähnt, sind die Nervennetze des Gehirns noch nicht entwickelt und die verschiedenen Schichten des Gehirns noch nicht verbunden, was erklärt, warum Kinder sich nicht wie kleine Erwachsene verhalten. Kinder können ihre Aufmerksamkeit nicht lange aufrechterhalten und sich nicht lange auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren oder ihre Impulse steuern, weil eben die Nervennetze des Neocortex und insbesondere der Frontallappen noch nicht entwickelt sind.

Kleinkinder haben Probleme damit, ihren Aktivitätsgrad zu steuern; normalerweise sind sie im Alter von 10 bis 12 Monaten die meiste Zeit in Bewegung und tun sich schwer damit, still zu sitzen. Eine Aufgabe der Basalganglien ist es, den Aktivitätsgrad zu steuern. Da sie sich noch nicht richtig entwickelt haben und nicht mit den anderen Ebenen des Gehirns vernetzt sind, wirken die meisten normalen Babys in diesem Alter überaktiv.

Dagegen werden Babys, die sich aufgrund eines schwachen Muskeltonus nicht ausreichend bewegen können, eher schwerfällig, hypoaktiv, unaufmerksam und sie entwickeln sich spät.

 

Die Aufmerksamkeitsstörung als verzögerte Gehirnreifung

Wie wir gesehen haben, betrachten die „Experten“ ADHS als genetisch bedingt. Eine alternative Betrachtungsweise wäre, dass die entsprechenden Verhaltensmerkmale Folgen eines verzögerten oder behinderten Gehirnreifungsprozesses sind. Aus irgendeinem Grund wurde das Gehirn des Kindes nicht genügend stimuliert, sodass die Neuronen zu wenig Axone und neue Synapsen bilden und die verschiedenen Teil des Gehirns sich nicht ausreichend vernetzen konnten.

Es gibt viele Umstände, die die motorische Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen können: Frühgeburt, Verletzung des Gehirns bei der Geburt, erbliche Faktoren oder Krankheiten. Andere mögliche Faktoren könnten elektromagnetische Strahlung, Schwermetalle und Impfungen sein, die sich auf das Gehirn auswirken können. Solche Faktoren können dazu führen, dass das Kind wichtige Schritte seiner motorischen Entwicklung auslässt, was nicht nur die motorische Entwicklung beeinträchtigt, sondern auch die Entwicklung und Reifung des Gehirns.

Sorgen die Angehörigen oder Bezugspersonen des Kindes nicht für genügend Stimulation – wird es also ohne Anregung des Tast- und des Gleichgewichtssinns sich selbst überlassen oder muss es übermäßig lange in Babystühlen oder Kindersitzen sitzen, anstatt sich auf dem Boden zu bewegen – wird die ordnungsgemäße Reifung des Gehirns ebenfalls behindert.

 

Ähnlichkeiten zwischen Babys und ADHS-Kindern

Wie bereits aufgezeigt sind Aufmerksamkeitsdefizit-Probleme und Hyperaktivität gemeinsame Merkmale von ganz kleinen Kindern und solchen, die unter ADHS leiden. Bei beiden Gruppen gibt es viele Anzeichen dafür, dass die Basalganglien (noch) nicht richtig arbeiten; dazu gehören Schwierigkeiten, den Aktivitätsgrad zu steuern sowie Probleme mit primitiven Reflexen und dem Gleichgewicht.

Es ist außerdem bekannt, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen nicht in der Lage sind, einfache Bewegungen rhythmisch und fließend auszuführen, was darauf hinweist, dass die Nervennetze des Kleinhirns sich nicht richtig entwickelt haben. Da das Kleinhirn für die ordnungsgemäße Funktion der Frontallappen von wesentlicher Bedeutung ist, kann dieses Unvermögen ein entscheidender Faktor hinter den Problemen mit Aufmerksamkeit und Impulsivität sein.

Viele Kinder mit ADHS haben einen schwachen Muskeltonus und eine vorn übergebeugte Körperhaltung. Das führt zu Flachatmigkeit und ungenügender Aktivierung des Neocortex. Solche Kinder können zwischen Hyperaktivität und Passivität schwanken, wobei die Hyperaktivität eine Möglichkeit darstellt, den Neocortex durch Bewegung zu stimulieren.

 

Ein aktiver Moro-Reflex kann zu Aufmerksamkeitsproblemen beitragen

Viele ADHS-Kinder haben einen aktiven Moro-Reflex und Furcht-Lähmungs-Reflex. Der Furcht-Lähmungs-Reflex sollte normalerweise zwölf Wochen nach der Empfängnis im Mutterleib gehemmt werden. Der Moro-Reflex ist ein primitiver Reflex, der in der Regel integriert wird, bevor das Kind den sechsten Lebensmonat erreicht. Wenn diese Reflexe nicht integriert werden, lebt das Kind in einem ständigen inneren Stresszustand und ist überempfindlich gegenüber äußeren sensorischen Eindrücken, die es beispielsweise über visuelle, auditive und taktile Sinne erhält. Diese Kinder sind schnell abgelenkt und ermüden leicht in lauter Umgebung; sie reagieren dann entweder, indem sie aggressiv werden oder indem sie sich in sich zurückziehen.

 

Nachreifung des Gehirns mit rhythmischen Bewegungsübungen

Wie ich gezeigt habe, gibt es zwischen Babys und ADHS-Kindern hinsichtlich des Verhaltens und der mangelnden Gehirnreifung viele Ähnlichkeiten.

Daher drängt sich die Frage auf, ob Kinder mit ADHS oder ADS durch Nachahmung der spontanen rhythmischen Bewegungen von Babys geholfen werden kann. Ein solches Bewegungstraining gibt es in Schweden seit mehr als 25 Jahren.

Die rhythmischen Bewegungsübungen wurden von Kerstin Linde entwickelt und basieren auf den natürlichen rhythmischen Bewegungen von Babys. Um Wirkung zu zeigen, müssen diese Übungen täglich 10 bis 15 Minuten lang im Liegen, Sitzen oder auf allen Vieren durchgeführt werden.

Die sensorische Stimulation durch die rhythmischen Bewegungen regt auch die Entwicklung der Nervenverknüpfungen in Stammhirn, Kleinhirn, Basalganglien und Neocortex an. Dadurch verbessern sich Aufmerksamkeit und Konzentration, während Hyperaktivität und Impulsivität abnehmen.

Die rhythmischen Bewegungen erhöhen den Muskeltonus der Rückenstrecker und halten den Kopf in aufrechter Position. Körperhaltung, Atmung und Durchhaltevermögen werden besser und der Neocortex wird durch die Stimulation über das Stammhirn erregt, was zu einer Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration führt.

Das rhythmische Training stimuliert das Kleinhirn und seine Nervenverbindungen zum präfrontalen Kortex, was ebenfalls zu verbesserter Aufmerksamkeit und Konzentration führt und die Impulsivität mindert.

Das rhythmische Training regt zudem die Basalganglien zur Reifung und Integration der primitiven Reflexe an und damit wird es für das Kind leichter, seinen Aktivitätsgrad zu steuern und sich ruhig zu verhalten.

Ein Fallbeispiel soll zeigen, was das rhythmische Bewegungstraining bei Aufmerksamkeitsstörungen bewirken kann. In Annas Fall konnte nicht nur die Aufmerksamkeit verbessert werden, sondern gleichzeitig die Impulsivität, Ablenkbarkeit und Hyperaktivität.

 

Fallbeispiel: Anna

Das folgende Fallbeispiel soll die Wirkung des RMT bei Aufmerksamkeitsstörungen veranschaulichen und zeigen, wie die rhythmischen Bewegungen die Aufmerksamkeit erhöhen und die Impulsivität und Hyperaktivität senken.

Anna war zehn Jahre alt, als sie mit dem rhythmischen Bewegungstraining begann. Mit Ausnahme der Feinmotorik war ihre motorische Entwicklung normal verlaufen. Als Baby durchlief sie die Krabbelphase und konnte im Alter von einem Jahr laufen. Doch sie hatte große Schwierigkeiten mit der Konzentration und dem Stillsitzen in der Schule. Sie war leicht abzulenken und zeigte eine sehr geringe Ausdauer. Lesen und Schreiben bereiteten ihr keine Probleme, aber sie hatte große Schwierigkeiten beim Rechnen. Während der Mathematikstunden stand ihr eigens eine pädagogische Hilfskraft zur Seite, und wenn diese nicht da war, lief sie nur in der Klasse herum und störte die anderen.

Anna handelte spontan und hatte große Schwierigkeiten, aufzupassen und Anweisungen zu befolgen, insbesondere im Sportunterricht, an dem sie gar nicht teilnehmen wollte. Sie hatte schwache Knöchel und verstauchte sich leicht. Große Probleme hatte sie mit der Feinmotorik, insbesondere mit dem Binden von Schuhbändern und dem Zuknöpfen von Kleidungsstücken, und ihre Handschrift war schlecht.

Anna hatte auch emotionale Probleme. Sie fürchtete sich im Dunkeln, war verunsichert und beklommen, vor allem nachts. Beziehungen zu Gleichaltrigen gestalteten sich äußerst schwierig. Die Mädchen in ihrer Klasse hänselten sie oft; dann rannte sie weg und versteckte sich.

Als sie zum ersten Mal zu mir kam, testete ich ihre primitiven Reflexe, von denen viele aktiv waren. Der Spinale Galantreflex war besonders aktiv – das war die Erklärung dafür, dass sie nicht still sitzen und keine eng anliegenden Kleidungsstücke tragen konnte. Auch der Moro-Reflex war aktiv – und damit verantwortlich für ihre Geräusch- und Berührungsempfindlichkeit und für ihre emotionalen Probleme.

Ebenfalls aktiv waren der Palmar- und der Greifreflex – die Ursache für ihre Probleme mit der Feinmotorik.

 

Annas Trainingsprogramm

Anna kam etwas mehr als ein Jahr lang etwa einmal im Monat zu mir. Sie machte zuhause täglich 10 bis 15 Minuten lang ihre rhythmischen Übungen. Bei jedem Besuch bekam sie neue. Einige davon behielt sie die meiste Zeit bei. Bei ihren Übungen wurde sie unterstützt und korrigiert, damit sie sie so exakt wie möglich machte. Zusätzlich bekam sie spezielle Übungen zur Reflexintegration, bei denen ihre Mutter ihr half.

Nach vier Monaten stellte ihre Mutter fest, dass Anna „aufsässiger“ und „übellauniger“ sei als vorher. Nach fünf Monaten hatten sich diese Verhaltensmerkmale wieder gebessert und sie war selbstsicherer. Anna konnte sich in der Schule besser konzentrieren und die Schularbeiten gingen ihr leichter von der Hand, auch das Rechnen. Wenige Wochen später hatte sie im Rechnen das Niveau ihrer Klassenkameraden erreicht. Auch im Sport lief es besser und sie ging nun gerne hin. Ganz besonders mochte sie Weit- und Hochsprung.

Nach einem halben Jahr wechselte sie nach den Sommerferien auf eine andere Schule und ihre Mutter verschwieg dort ihre Probleme. Es stellte sich heraus, dass sie sich gut konzentrieren konnte und keine zusätzliche Hilfe mehr benötigte. Die Beziehungen zu ihren Klassenkameraden gestalteten sich ohne Probleme und sie wurde nicht mehr gehänselt. Ihre Knöchel waren viel stärker geworden und so begann sie mit Fußballtraining. Auch ihre Feinmotorik hatte sich erheblich gebessert.

Nach etwas über einem Jahr Bewegungstraining war die Angst vor der Dunkelheit verschwunden. Sie war auch nicht mehr überempfindlich gegenüber Geräuschen und Berührung und ließ sich nicht so leicht ablenken. Sie konnte problemlos stillsitzen und eng anliegende Kleidung tragen. Obwohl sich die feinmotorischen Fähigkeiten sehr gebessert hatten, hatte sie immer noch gewisse Schwierigkeiten mit dem Zuknöpfen von Kleidungsstücken. Die Konzentration machte ihr praktisch gar nicht mehr zu schaffen und ihre Ausdauer war gut.